Nach 3 Monaten Psychiatrie geheilt?

Vor der Aufnahme auf der stationären Psychiatrie dachte ich, ich gehe für 6 Wochen hin – das müsse doch reichen, und länger kann ich mich ja nicht vom Alltag ausklinken – und wäre danach geheilt. Im Sinne von: Danach kann ich noch besser funktionieren, als ich es eh schon tue. Schon bald wurde mir klar, dass das nicht so easy sein wird und dass ich nicht auf der Psychiatrie bin, um danach meinen Verhaltens- und Gedankenmustern noch weiter und noch produktiver nachzugehen, sondern dass ich hier bin, um zu heilen und Wege für mich zu finden, meine eigenen Bedürfnisse mal voranzustellen.

Es gibt auf der Station keine Ganzkörperspiegel. Hat Vor- und Nachteile.

Seit meiner Kindheit bin ich es gewohnt, für andere da zu sein. Als Kind zweier Migrant:innen muss man eben schon früh beginnen, Behördengänge zu erledigen, bei ärztlichen Untersuchungen zu übersetzen, selbst bei Elternsprechtagen. Auch später hielt sich das Muster. Die ehrenamtliche Arbeit in NGOs, in der Politik und in Vereinen haben mein Verhalten, nur für andere da zu sein, verstärkt. Es ist nicht schlecht, für andere da zu sein, ganz im Gegenteil. Aber wie ich hier oft zu hören bekommen habe: Die Dosis ist das Gift, und ab und an ist es schon auch okay, die eigenen Bedürfnisse voranzustellen. Klingt nicht so einfach, ist es auch nicht (arbeite immer noch dran).

Ich habe mich in den letzten drei Monaten (ja, aus den 6 Wochen wurden 12) viel mit Glaubenssätzen, Gefühlsregulation, Umgang mit Problemverhalten und vielen anderen Brocken beschäftigt (deren Befassung meiner Meinung nach für alle ratsam wäre, nicht nur für Psychisch Erkrankte). Und angefangen, einige negative Gedanken- und Verhaltensmuster loszuwerden bzw umzudenken, und die Vergangenheit zu akzeptieren. Ziemlich viel Arbeit, ein Wochenende hat es mich auch auf die Akutstation gebracht – aber es waren sehr wertvolle Erfahrungen.

📸 Mafalda Rakoš

Bewusstsein

Das A und O der hier, auf Marsha Lindehans Dialektische Behaviorale Therapie (DBT) aufgebaute, Therapie basiert auf Achtsamkeit. Nicht nur achtsam den Körper zu fühlen, sondern auch die Gedanken. Vieles, was wir in einer Automatik bzw unbewusst tun und denken, basiert auf Glaubenssätze, die wir uns aufgebaut haben. Nehmen wir das Beispiel Funktionieren. „Ich muss funktionieren“ könnte dazu führen, dass man die Signale und Gedanken, dass es einem schlechter geht, verdrängt und hartnäckig versucht, weiterzumachen. Das kann früher oder später zu einem Absturz führen.

In meiner vorletzten Woche ist ein Thema in der Psychotherapie aufgepoppt, das mich belastet und wonach sich die Stimmung und Spannung bei mir wieder verschlechtert hat – und wir haben in der Einzeltherapie beschlossen, dieses Thema vorerst mal bewusst beiseitezuschieben, da dessen Verarbeitung sich so kurz vor der Entlassung nicht mehr ausgeht. Das ist kein ungesundes Verdrängen, sondern ein bewusstes Gehen-lassen von Gedanken, die in einem Tresor aufbewahrt werden und später wieder aufgemacht werden können, sobald die Zeit und Energie es gewähren.

Seitdem ich achtsamer mit mir selbst umgehe, fallen mir negative Gedanken- und Verhaltensmuster viel eher auf, und auch die körperliche Anspannung wird mir viel bewusster. Sich sowas ins Bewusstsein zu holen, um bewusst zu entscheiden, wie der weitere Vorgang aussieht, ist für mich eine befreiende und hilfreiche Erkenntnis.

Inneres Kind

Viele Borderline Erkrankte haben traumatische Erlebnisse in ihrer Kindheit erlebt. Ich dachte, ich müsse all das mal verarbeiten, um „geheilt“ zu werden. Also alle Kindheitserfahrungen ausgraben und analysieren. Es sind tatsächlich auch einige Erinnerungen aufgetaucht, die ich jahrelang nicht mehr im Bewusstsein hatte.

📸 Mafalda Rakoš

Es geht aber, zumindest in meinem Fall, gar nicht darum, alles von früher verarbeiten zu müssen. Sondern sich die Frage zu stellen, was ich dem damaligen Kind Evelyn sagen würde, um es zu trösten.

Dieses innere Kind ist in vielen Erwachsenen noch verankert und gibt einem Gefühle und Gedanken, die mit ihrer Lebenserfahrung verbunden sind und für andere oft nicht so verständlich sind. Zum Beispiel Beziehungsschwierigkeiten, Verlustängste, Schwarz-weiß Denken, also viele „typische“ Symptome von Borderline. Mir hat der Umgang mit dem inneren Kind sehr geholfen, die Vergangenheit zu akzeptieren, so wie sie war, und mit dem Hier und Jetzt zu arbeiten. Wenn ich also wieder in eine Situation komme, wo ich merke, dass mein „inneres Kind“ zum Vorschein kommt, rede ich darauf ein wie ich es mir gewünscht hätte, als ich tatsächlich ein Kind war.

Wie wird es weitergehen?

27 Jahre in 3 Monaten zu verarbeiten ist unmöglich, habe ich jetzt verstanden. Deswegen werde ich nach einer Zeit wohl noch einmal zur „Auffrischung“ einen stationären Aufenthalt überlegen. Den schwierigsten Brocken mit Selbstverletzung bei hoher Anspannung oder in den depressivsten Phasen scheinen wir aber zumindest einmal halbwegs ins Gleichgewicht gebracht zu haben.

Am Freitag werde ich entlassen, und für dieses Jahr ist noch ein 3-monatiger Aufenthalt in der Tagesklinik geplant. Mittlerweile bin ich weg vom „6 Wochen reichen doch aus, danach muss ich wieder funktionieren“ und tendiere zu einem „ich bin es mir wert, dass ich schaue, dass es mir wieder besser geht und möchte deswegen die Therapie in Anspruch nehmen“.

2 Antworten zu „Nach 3 Monaten Psychiatrie geheilt?”.

  1. Avatar von Wolfgang Pechlaner
    Wolfgang Pechlaner

    Möchte mich nochmals für die Offenheit, mit dem Sie dieses Thema angehen, bedanken. Noch zu oft wird das Problem von psychischen Krankheiten tabuisiert, und Betroffene von der Gesellschaft an den Rand gedrängt. Dabei sollte es eine Krankheit, leider manchmal auch eine langwierige oder sogar das ganze Leben dauernde, wie jede andere sein. Die Krankheit sagt NICHTS über die geistigen und sozialen Fähigkeiten eines Menschen aus.
    Es gibt Mut, wenn sogar Politker:innen dies offen aussprechen. Möchte Ihnen auf diesen Wege noch alles Gute wünschen.

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    1. Hallo Wolfgang! Danke dir, deine Worte geben viel Mut 🙂 Habe mich gefreut, dich persönlich kennengelernt zu haben!

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