Eine Geschichte, die mir besonders nahe ging, war die über den Sprung in der Schüssel. Nachdem die Kunsttherapeutin sie fertig gelesen hatte, war ich schon voller Tränen. Zum Glück war das ein Rahmen, wo ich die Tränen nicht zurückhalten musste. Die Geschichte lautet wie folgt:
Es war einmal eine alte Frau, die zwei große Schüsseln hatte, die von den
Enden einer Stange hingen, die sie über ihren Schultern trug. Eine der Schüsseln hatte einen Sprung, während die andere makellos war und stets eine volle Portion Wasser fasste. Am Ende der langen Wanderung vom Fluss zum Haus der alten Frau war die andere Schüssel jedoch immer nur noch halb voll.
Zwei Jahre lang geschah dies täglich: die alte Frau brachte immer nur anderthalb Schüsseln Wasser mit nach Hause. Die makellose Schüssel war natürlich sehr stolz auf ihre Leistung, aber die arme Schüssel mit dem Sprung schämte sich wegen ihres Makels und war betrübt, dass sie nur die Hälfte dessen verrichten konnte, wofür sie gemacht worden war.
Nach zwei Jahren, die ihr wie ein endloses Versagen vorkamen, sprach die Schüssel zu der alten Frau: „Ich schäme mich so wegen meines Sprungs, aus dem den ganzen Weg zu deinem Haus immer Wasser läuft.“
Die alte Frau lächelte. „Ist dir aufgefallen, dass auf deiner Seite des Weges Blumen blühen, aber auf der Seite der anderen Schüssel nicht?“
„Ich habe auf deiner Seite des Pfades Blumensamen gesät, weil ich mir deines Fehlers bewusst war. Nun gießt du sie jeden Tag, wenn wir nach Hause laufen. Zwei Jahre lang konnte ich diese wunderschönen Blumen pflücken und den Tisch damit schmücken. Wenn du nicht genauso wärst, wie du bist, würde diese Schönheit nicht existieren und unser Haus beehren.“

Wir haben dazu verschiedene Bilder von Blumen bekommen, die wir uns aussuchen durften. Ich habe viele Blumen ausgesucht und sie auf das Papier geklebt. Und sie alle übermalt mit dunkeln Farben. Ich habe danach wieder versucht, die Farbe der Blumen drüberzumalen – vergebens. Das stand für meine Inkompetenz, die positiven Gefühle anderer mir gegenüber anzuerkennen. Selbstakzeptanz und Selbstwert waren zu dem Zeitpunkt nicht (mehr) zu finden.
Tagebucheintrag vom 3. März 2023
„Bei der Kunsttherapie wurde die Geschichte von der Schüssel mit dem Sprung erzählt. Wie sich die Schüssel schlecht fühlt, weil sie nur die Hälfte von dem verrichten kann, was sie sollte (gemessen an der anderen Schüssel). Die alte Frau hat auf der Seite der kaputten Schüssel Blumensamen eingesetzt, die die kaputte Schüssel aufgrund ihres „Fehlers“ zum Blühen gebracht hat. Also war es die alte Frau, die das „Potential“ oder die guten Seiten der Schüssel gesehen hat. Dann sollten wir dazu was malen. Also Selbstakzeptanz. Da habe ich angefangen zu weinen.
Danach habe ich eine Dreiviertelstunde mit der Pflegerin Nora verbracht. Gespräch, Ammoniak, Pfefferminz, Chilibonbon, die klassischen Notfallskills. Dann habe ich geschlafen. Jetzt habe ich Yoga gemacht und kalt geduscht, aber ich spüre die Spannung immer noch. Und die Trauer. Vorhin kamen wieder Suizidgedanken. Spannung loslassen und einfach aufhören zu leiden.“
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