Mein Umgang mit Suizidalität 5 Jahre nach meiner Diagnose mit Depression und Borderline

Dieser Beitrag schildert persönliche Erfahrungen. Sie sind außerdem eine Momentaufnahme vom Hier und Jetzt meiner Gedanken und Situation. Die beschriebenen Gedanken, Symptome und Erfahrungen müssen nicht auf andere mit borderline- und/oder Depression Erkrankte zutreffen. Psychische Erkrankungen äußern sich bei jedem anders, jede:r Betroffene bedarf daher einer eigenen Behandlung. Wichtig ist jedenfalls, sich in psychiatrische/psychotherapeutische Betreuung zu begeben. Damit man lernt, mit diesen Krankheiten umzugehen.

Wenn es dir schlecht geht, gibt es einige Anlaufstellen, wo du Hilfe bekommen kannst.
Telefonseelsorge 142
Rettung 144
Männernotruf 0800 246 247
Frauenhelpline 0800 222 555
Rat-auf-Draht 147
Kriseninterventionszentrum 01 4069595
PSD 01 31330

Auch für Angehörige ist es nicht einfach, für psychisch erkrankte Menschen da zu sein. Für sie gelten ebenfalls die oben aufgelisteten Nummern, wie zB auch Organisationen wie HPE.

Fünf Jahre ist es mittlerweile her, dass ich realisiert habe, dass ich alleine nicht mehr aus dem tiefen Loch rauskomme. Fünf Jahre ist es her, dass ich zu einer Psychiaterin gegangen bin und die Diagnosen Depression und Borderline erhalten habe. Seit fünf Jahren bin ich in Therapie und nehme Antidepressiva. Vier Jahre ist es ungefähr her, als ich keinen Sinn mehr im Leben gesehen habe. Dreieinhalb Jahre ist der erste Suizidversuch her. Zwei Jahre ist mein 6-monatiger Aufenthalt in der Psychiatrie her. Und heute? Heute bin ich nicht geheilt, und es ging seit dem Psychiatrieaufenthalt auch nicht nur bergauf, sondern auch immer wieder mal bergab. Aber ich habe heute mehr Zuversicht in morgen, als ich damals in heute hatte.

Eine Entscheidung, die ich zu spät getroffen habe, die aber trotzdem wahrscheinlich mein Leben gerettet hat war es, in Therapie bzw. in die Psychiatrie zu gehen. Dort habe ich gelernt, den Ursprung meiner negativen Gedanken und Emotionen zu verstehen, meine Bedürfnisse, und was mir gut tut, damit es mir wieder besser geht. Eigentlich absurd, wenn man so darüber nachdenkt. Weil eigentlich habe ich gelernt, dass ich meinen eigenen Gedanken und Emotionen nicht immer so vertrauen darf. Ich denke, und ich bin krank. Ich muss das Gegenteil denken, dann tut mein Körper vielleicht auch so, als wär ich nicht krank. Oder ich muss so handeln, als wär ich nicht krank, dann folgt mein Hirn vielleicht nach. Ich darf nicht denken, worüber ich sonst denke, dann bin ich vielleicht wieder ich. So einfach wie man Descartes‘ Spruch kennt, ist es also nicht ganz. Und es braucht unglaublich viel Stärke, die eigenen Gedanken zu bekämpfen, und das raubt dir natürlich auch die Energie für andere Dinge. Und das bringt dich vielleicht noch mehr in ein Loch, weil du Dinge nicht mehr genießen kannst, die du früher genossen hast, weil du eben keine Energie dafür hast. Und gleichzeitig musst du raus und so tun, als ob alles okay wäre, damit du nicht gefeuert wirst oder nicht bemitleidet wirst oder sich die Familie eh keine Sorgen macht. Also es ist ganz schwierig, aus dem negativen Kreislauf, der nur schlimmer wird, rauszukommen, und man muss auf einiges aufpassen – aber es ist möglich!

Es gab schon gute Momente, seitdem ich in Therapie bin. Ein paar Stunden, ein paar Tage, manchmal sogar über ein paar Monate. Ein kurzer Moment des Glücksgefühls, das über dich herzieht, so schnell kann es aber auch wieder weg sein. Und wie es bei Erkrankungen so ist – ich schließe physische jetzt gar nicht aus, die Migräne ist ja auch so tückisch – kommen die schlechten Momente immer wieder.

Der Suizidbegriff wird von unterschiedlichen Bereichen unterschiedlich weit aufgefasst. Mein letzter Suizidversuch, wo ich auf der Akutpsychiatrie gelandet bin, ist drei Jahre her. Das letzte Mal, als ich Suizidgedanken hatte? Das ist vielleicht eine Woche her. Aber wenn sie kommen, habe ich Wege für mich gefunden, sie auch wieder gehen zu lassen:

  1. Skills
    „Borderliner“, die in Therapie waren, kennen sie: die Skills. Das sind Handlungen, die dir dabei helfen, die Anspannung loszuwerden. Dafür ist es mal wichtig zu lernen, wie hoch deine Anspannung ist. Nimmt man eine Skala von 1-10 wäre der „Normalzustand“, bzw. die „Grundspannung“, ungefähr bei 4. Alles drunter wäre so eine richtige Niedergeschlagenheit, also wenn man gar nicht aus dem Bett kommt, gar keine Energie hat. Und 7 stellt die „point of no return“ dar. Spätestens da kommt das Notfallmedikament zum Einsatz, und wenn es nicht besser wird, der Anruf bei der Rettung.

    Man lernt, die innere Anspannung zu skalieren, indem man sich mehrmals am Tag abfragt. Wie sehr bin ich von 1-10 angespannt? Am besten, man führt ein Protokoll und stellt sich diese Frage in der Früh, zu Mittag und am Abend. Und probiert Sachen aus. Sei es Düfte (wie zB Lavendel oder Bergamotte, die beruhigend wirken sollen), eine kalte Dusche (oder einfach die Hände, die Handgelenke, das Gesicht und den Nacken mit einem kalten Tuch zu befeuchten), Musik zu hören, ein Musikinstrument zu spielen, in das Kissen zu schreien, Sport zu machen, einen Massageball zu verwenden, Tagebuch zu schreiben, sich einer Freundin anzuvertrauen. Und welche Tätigkeit zu welchem Spannungsgrad passt, um die innere Anspannung zu lösen. Also Notfallmedikament, das wäre dann die 7. Die kalte Dusche ist ziemlich arg – aber effektiv -, die wäre ebenfalls bei 7. Der Bergamotte-Duft bringt mir bei einer starken Anspannung nicht viel, dafür aber wenn ich mich nur ein bisschen unruhig fühle, also so bei einer 4 ca.

    Dann beginnt man also von oben und führt die Tätigkeiten nach unten aus. Man beginnt also beim „schlimmsten“. Für mich ist es mein Notfallmedikament, Pfefferminzöl unter die Augen und eine Chilischote auf die Zunge (glaub mir, wenn du dich nicht spürst, spürst du dich spätestens da). Dann kommt Sport, und dann die eiskalte Dusche. Dann Klavierspielen, dann Musikhören, mit Bergamotte Duft. Das ganze Prozedere dauert bei mir ungefähr eine halbe bis eine Stunde, aber dann bin ich zumindest ruhiger. Nicht glücklich, aber zumindest keine Selbstgefährdung mehr.

    Wichtig ist es aber auch, dass die Grundspannung nicht zu hoch ist. Bevor ich in der Psychiatrie war, war meine Grundspannung konstant bei ungefähr 5 oder 6. Da helfen auch die Skills nicht wirklich, um runterzukommen. Da hat nur Therapie geholfen, da es ungelöste innere Konflikte waren, die die anhaltende Anspannung ausgelöst haben.

  2. Ich vertraue mir selber nicht
    Stell dir vor, deine Gedanken wären Parasiten. Wenn die weg sind, kannst du wieder durchatmen. Ich vertraue mir also in Momenten, wo es mir schlecht geht, einfach selber nicht mehr. Wenn mich schlechte Emotionen überkommen, frage ich mich: was würde meine beste Freundin in der Situation tun? Was würde ich meiner besten Freundin, wäre sie in meiner Situation, raten? Denn über sich selbst kann man oft nicht rational oder mit Fürsorge nachdenken. Und im Endeffekt rede ich mir einfach ein: es wird wieder besser. Und es wird ja auch immer wieder besser, und dann bin ich froh, dass ich keinen Suizid begangen habe.

  3. Disziplin
    Wenn es mir schlecht geht, schaue ich auch, dass ich die Kontrolle über mich selber nicht noch weiter verliere. Das bedeutet den Verzicht auf Alkohol (und andere Drogen) und alles, was deine Impulsivität herausbrechen lassen könnte. Und harte Disziplin. Einen geregelten Tagesablauf von der Morgenroutine bis hin zu ich trage mir in meinem Kalender ein, wann ich esse und wie lange ich Pause mache, bis hin zur Abendroutine und um genau 22 Uhr lege ich mein Handy weg, damit ich überhaupt zu Schlaf komme, weil mich die Alpträume und Schlafstörungen sonst fertig machen. Es fühlt sich irgendwie unfair an, ja, dass die ganzen Normalos da draußen auf nichts achten müssen und trotzdem ihr Leben nicht hinterfragen und wie ein Baby schlafen. Während du da bist, das Gefühl hast, festzustecken, so vieles verloren zu haben, und keine Zukunft vor Augen hast.

    Aber sieh’s so: wenn es dir wieder besser geht, wirst du es so genießen. Jeden einzelnen Moment, die Sonne auf deiner Haut. Das Lächeln der Passantin, die an dir vorbeigeht. Die Umarmung deiner besten Freundin. Der fürsorgliche Blick deiner Mutter. Du wirst wieder laut auflachen können, wenn du einen guten Witz hörst. Oder mit einer Leichtigkeit aufstehen, wie du sie lange nicht mehr gespürt hast. Du wirst dir über ganz banale Dinge Sorgen machen und es wird dir dann bewusst, wie schön es doch ist, dass du dir wegen Sachen den Kopf zerbrichst, die ein paar Jahre davor, als das Leben sinnlos war, so banal vorgekommen sind. Du wirst so stark aus diesem Loch herauskommen und die Welt neu fühlen und neu entdecken – mehr als alle anderen, die nicht das durchgegangen sind, was du durchgegangen bist.

  4. Radikale Akzeptanz bzw die Gedanken weiterziehen lassen
    Es ist so, wie’s ist. Es ist keine langfristige Lösung, deine Gedanken zu verdrängen – im Gegenteil kommen sie vielleicht um so stärker zurück. Aber es ist okay, wenn dich deine Emotionen und Gedanken übernehmen, sie in eine Box zu sperren und dir zu denken: diese Gedanken und Emotionen sind jetzt da und es gibt einen Grund, warum sie da sind. Aber ich bin derzeit nicht in der Lage, selbstständig damit umzugehen. Ich akzeptiere, dass sie da sind, werde die Box aber erst öffnen, wenn ich meine Therapeutin wieder sehe.

    Manchmal verliert man sich auch in den negativen Gedankenspiralen, und der eine schlechte Gedanke geht in den nächsten, noch schlechteren Gedanken, und so weiter. Vielleicht gelingt es dir, den Gedanken weiterziehen zu lassen und mal gar nicht weiter zu denken. Versuche Skills, lenke dich ab. Und gleichzeitig zu akzeptieren dass sie da sind, und dass es einen Grund gibt, warum sie da sind. Und sie können und werden auch wieder gehen, und es wird irgendwann wieder besser.

  5. Ein Umfeld, das mich auffängt & professionelle Hilfe
    Ich bin in der unglaublich privilegierten Situation, dass ich mir privat Psychotherapie leisten kann und ein Freundenetz hab, das mich auffängt. Ich höre von Freund:innen aus meiner Psychiatriezeit, dass der PSD einen Aufnahemstopp hat und sie keinen Therapieplatz bekommen. Wenn du in deinem privaten Umfeld niemanden hast, dem du dich anvertrauen kannst, und auch zu keinem Therapieplatz kommst: bitte ruf trotzdem den PSD an, oder Rat-Auf-Draht, die Telefonseelsorge, oder die Rettung, wenn es dir schlecht geht. Sie können dir sowohl im Notfall Rat geben, wie auch sonst Tipps, wie du welche professionelle Hilfe finden kannst.

    Für Angehörige ist die Situation übrigens auch nicht einfach. Ich habe sie nicht beansprucht, aber es gibt Organisationen wie HPE, die Angehörige unterstützen.

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