Wie man nach der Psychiatrie wieder in den Alltag einsteigt

Dieser Beitrag schildert persönliche Erfahrungen. Sie sind außerdem eine Momentaufnahme vom Hier und Jetzt meiner Gedanken und Situation. Die beschriebenen Gedanken, Symptome und Erfahrungen müssen nicht auf andere mit borderline- und/oder Depression Erkrankte zutreffen. Psychische Erkrankungen äußern sich bei jedem anders, jede:r Betroffene bedarf daher einer eigenen Behandlung. Wichtig ist jedenfalls, sich in psychiatrische/psychotherapeutische Betreuung zu begeben. Damit man lernt, mit diesen Krankheiten umzugehen.

Mittlerweile ist es drei Monate her, dass ich aus der Psychiatrie entlassen wurde. Sechs Monate – drei Monate stationär und drei Monate in der Tagesklinik – habe ich dort verbracht, um an mir zu arbeiten. Ich kann mich noch erinnern, als ich mir vor der stationären Aufnahme gedacht habe: Boah, vielleicht reichen ja 6 Wochen auch, und selbst das wäre eine lange Zeit. Und jetzt denke ich: Die sechs Monate sind nichts im Vergleich zu den letzten drei Jahren, wo ich durch die Hölle gegangen bin. Letztes Jahr kam es zu drei Suizidversuchen, drei Aufenthalten auf der Akutpsychiatrie, und dieses Jahr hatte ich mich endlich zu einer längeren Therapie in der Psychiatrie entschlossen. Wahrscheinlich die beste Entscheidung in meinem jetzigen Lebensabschnitt, vielleicht eine der besten Entscheidungen in meinem Leben.

Ich bemerke kaum noch „typische Borderline-Verhaltensmuster“ oder Gedanken. Und wenn sie doch kommen, kann ich mich von ihnen distanzieren und sie rational bewerten. Ich bin wieder voll in die Bezirkspolitik eingestiegen, habe danach sogar einen neuen Job gefunden (der mir unglaublich viel Spaß macht – ich habe anscheinend genau so etwas „Neues“ gebraucht), und bin auch in eine neue Wohnung umgezogen. Man könnte das wohl einen kompletten Neustart nennen.

Mein Chef und meine Arbeitskollegin, die sehr verständnisvoll gegenüber meiner Situation sind ❤

Mir geht es seit der Entlassung gut, aber ich hatte mich noch nicht getraut zu bestätigen, dass es mittel- oder sogar langfristig so bleibt. Langfristig traue ich mich es immer noch nicht zu sagen – beziehungsweise weiß ich, dass es mir auch wieder schlechter gehen wird. Aber ich weiß auch, dass ich die Mittel gelernt habe, damit umzugehen. Und mir sonst wieder der Aufenthalt in der Psychiatrie offen steht. Mittelfristig bin ich überzeugt, dass mir die sechs Monate gut getan haben. Ich bin nicht „geheilt“, ich glaube das wäre auch sehr schwierig und selbst nach Jahren der Stabilität schwierig zu sagen. Aber ich habe meinen Alltag gut im Griff. Ich kämpfe immer noch mit Schlafproblemen, mit regelmäßigem Essen und dem Haushalt, aber ich hatte seit langem keine Suizidversuche mehr. Was jedenfalls eine Verbesserung ist zu den letzten drei Jahren.

Ich denke, dass mir folgende Punkte geholfen haben, gut wieder in den Alltag einzusteigen und möchte sie mit euch teilen, weil es vielleicht manchen von euch auch helfen könnte:

  • Routinen im Alltag
    In der Tagesklinik habe ich an meiner Tagesstruktur gearbeitet. Meine Schlafstörungen sind durch eine regelmäßige Abend- und Morgenroutine besser geworden. Und meine Konzentration ist durch die einzelnen Therapiestunden (mit genügend Pausen dazwischen!) auch besser geworden. Ich habe daran gearbeitet, meinen Haushalt halbwegs in den Griff zu bekommen (was für viele mit Depression schwierig ist, die Verbesserung gelang zB durch sich für jeden Tag etwas vorzunehmen und das jede Woche, also Montag Küche, Dienstag Wohnzimmer, etc). Regelmäßige Bewegung ist auch wichtig für das seelische Wohlbefinden und zumindest einmal die Woche sollte sich das auch ausgehen. Mir hilft es, alles in meinen Kalender einzutragen, also auch, wann ich Sport mache. Routinen im Alltag geben Struktur und lassen einen weniger lang im Bett liegen bleiben (auch wenn mir das immer noch – meinen Wünschen nach zu oft – passiert).
  • Die gelernten Mittel und Methoden weiter anwenden
    Wie man mit „typischen Borderline-Gedanken und -Verhaltensmustern“ umgeht, habe ich in der Psychiatrie gelernt. Ich habe sie auf ein Blatt Papier geschrieben und an meine Wand gehängt. Sich immer daran zu erinnern und sie mit in den Alltag zu nehmen, anstatt in der Psychiatrie zurück zu lassen, ist unglaublich wichtig. Der Aufenthalt war ja genau dafür da. Leider merke ich bei vielen Mitpatient:innen, dass sie sich nach der Entlassung nicht mehr damit beschäftigt haben. Was verständlich ist, wenn es ihnen nicht so gut geht und es einfach schwierig ist, sich alleine damit zu beschäftigen. Aber der Wille muss da sein, und die Willenskraft ist essentiell, damit es einem wieder besser geht. Und der Glaube an sich selbst ist auch essentiell. Wenn man nicht an sich glaubt, könnte man sich fragen, wie man die beste Freundin behandeln würde, wäre sie in der Situation. Unterstützt ihr sie? Glaubt ihr an sie? Und diese tröstende Worte kann man sich selbst sagen.
  • Unterstützung im Umfeld
    Ich habe das Glück, dass ich einen großartigen Freundeskreis und eine tolle Arbeitskollegin habe, die meine Situation gut verstehen. Ich finde es unglaublich wichtig, Menschen um sich zu haben, denen man sich anvertrauen kann. Dazu muss man aber über den eigenen Schatten springen und sich zumindest einer Person anvertrauen, wie es einem geht und was man manchmal braucht (meine Arbeitskollegin zB ruft mich in der Früh vor wichtigen Terminen an, damit ich aus dem Bett komme). Das ist für viele, die kein soziales Netz haben, natürlich schwierig. Es gibt Angebote in Wien wie das Teilbetreute Wohnen, wo Sozialarbeiter:innen regelmäßig in die Wohnung kommen und mit denen man über den Alltag spricht und diesen regelt. Ein großartiges Angebot!
  • Therapie
    Es ist wichtig, die regelmäßige Therapie nach der Entlassung fortzusetzen. Vor allem nach einem Setting, wo man bis zu 24/7 professionell betreut wird, kann es schwierig sein, wieder in den Alltag einzusteigen. Anfangs bin ich wöchentlich in die Therapie gegangen, mittlerweile alle 2 Wochen (weil es mir eben grad so gut geht). Leider gibt es nach der Entlassung keine regulierte Nachbetreuung. Das heißt, man ist auf sich alleine gestellt, was die Suche nach einem Therapieplatz betrifft. Ich fände es gut, wenn man zB 1-2 Monate nach der Therapie noch wöchentlich oder alle zwei Wochen zum betreuenden Therapeutin/Therapeuten gehen kann. Ist natürlich auch eine Kostenfrage für die Kassen (deswegen braucht es mehr Geld für die psychische Gesundheit!).
  • Lust am Leben
    Ich habe schon beschrieben, wie wichtig die Willenskraft für die seelische Gesundheit ist. Die letzten Jahre habe ich die Lust am Leben fast komplett verloren, mit ein paar kurzen Ausnahmemomenten dazwischen. Heute habe ich wieder Lust am Leben, Lust am Lernen, Lust am Weiterentwickeln, Lust am Entdecken. Die Liste ist sehr lang… Die letzten Wochen in der Tagesklinik konnte ich schon kaum noch aushalten, weil ich wieder raus in die Welt wollte. Ich hatte wieder Perspektiven vor mir, auf die ich mich freute. Die neue Wohnung und der neue Job haben unglaublich geholfen. Das ist wohl eine spezielle Situation. Aber vielleicht hilft ein neues Hobby, neue Freunde, oä dabei. Vielleicht kann man auch ein Hobby aus der Ergotherapie weitermachen, bei der VHS gibt es unglaublich viele spannende Kurse.
  • Wahrscheinlich am wichtigsten: Gebt euch Zeit. Es kann nicht von heute auf morgen alles funktionieren. Jeder Schritt ist es wert, gewürdigt zu werden und bei jedem Schritt kann man stolz auf sich sein. Glaubt an euch und gebt nicht auf.

Ich hoffe, dass ihr etwas davon mitnehmen konntet. Wenn man an psychischen Erkrankungen leidet, wird man oft stigmatisiert wahrgenommen. Das ist vor allem während eines Psychiatrieaufenthalts und auch danach der Fall. Ich „funktioniere“ dabei viel besser als ich es die letzten drei Jahre tat, als anfangs noch niemand über meine Depression wusste. Und ich funktioniere nicht nur, sondern tue, was ich tue, mit Leidenschaft und beende anderes, was mir nicht gut tut. Ich habe wieder gelernt, Freude am Leben zu haben, und noch wichtiger: stolz auf mich und meine Entwicklungen zu sein.

2 Antworten zu „Wie man nach der Psychiatrie wieder in den Alltag einsteigt”.

  1. Danke für deine Offenheit und das Teilen. Alles Gute 🍀 🫶🏼✨

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